Zwischen Realität und Ideal. Vortrag von Prof. Ulrich Körtner über Ehe und Familie in Dornbirn [Interview: Simone Rinner], in: Vorarlberger KirchenBlatt, Nr. 43, 23.10.2014, S. 18
Fragen von Simone Rinner:
1. Die 2013 von der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) veröffentlichte Orientierungshilfe zum Thema Familie gibt das vormals formulierte Leitbild der traditionellen lebenslangen Ehe und Familie quasi auf, was zu heftigen Debatten führte. Wie ist der aktuelle Stand der Diskussion in dieser Frage?
Auf dem Höhepunkt der Debatte hat die EKD im September 2013 ein Symposium veranstaltet, auf dem die unterschiedlichen Standpunkte von Experten kontrovers diskutiert wurden. Parallel zur Familien-Denkschrift ist an einer neuen Denkschrift zur Sexualethik gearbeitet worden. Diese Denkschrift hat die EKD im heurigen Frühjahr zunächst einmal auf Eis gelegt, um die Ergebnisse der Theologischen Kammer abzuwarten, die jetzt an den aufgebrochenen Fragen zum evangelischen Verständnis von Ehe und Familie arbeitet.
2. Wie sieht die Evangelische Kirche in Österreich die Debatte?
In den Evangelischen Kirchen in Österreich wird die deutsche Diskussion aufmerksam verfolgt, zumal wir mit der EKD und ihren Gliedkirchen in der Gemeinschaft Europäischer Kirchen in Europa verbunden sind. Derzeit steht das Thema aber nicht auf der Tagesordnung der Synoden.
3. Die gesellschaftliche Praxis und die kirchliche Lehre klaffen auseinander. Soll sich die Kirche der gesellschaftlichen Realität beugen? Gibt es andere Lösungsansätze? Werden die beiden „Parteien“ hier jemals auf einen Nenner kommen?
Selbstverständlich sollen sich die Kirchen nicht der Normativität des Faktischen beugen. Eine lebensnahe Verkündigung muß sich aber gründlich mit den heutigen Realitäten der unterschiedlichen Lebensformen auseinandersetzen. Auch müssen die biblischen Aussagen zu Ehe und Familie zunächst in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Sie dürfen nicht kurzschlüssig mit überzeitlichen Normen verwechselt werden.
4. Für Martin Luther war die Ehe ein „weltlich Ding“ und gleichzeitig ein besonderer, „seliger Stand und Gott gefällig“. Wie kann man jungen Paaren heute erklären, dass ihre Gemeinschaft etwas mit Gott zu tun hat?
Die Liebe zwischen zwei Menschen ist eine gute Gabe Gottes. Der Glaube, daß mir mein Lebenspartner von Gott geschenkt wird – mit all seinen guten und schlechten Seiten – lehrt mich, die Liebe des anderen besonders zu schätzen. Er lehrt uns aber auch, in guten wie in schlechten Tagen füreinander vor Gott Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig hilft uns der Glaube, gnädig miteinander umzugehen und von der Partnerschaft nicht den Himmel auf Erden zu erwarten. Andernfalls drohen Beziehungen zu scheitern.
5. Ist das christliche Ideal überhaupt lebbar oder wird zu viel verlangt?
Die lebenslange Ehe ist noch immer der Wunsch vieler Menschen. In Anbetracht der dramatisch gestiegenen Lebenserwartung ist es freilich nicht mehr so leicht wie in früheren Zeiten, zusammenzubleiben, „bis der Tod euch scheidet“. Der Glaube hilft uns aber auch, mit dem Scheitern und mit Schuld umzugehen. Weil Gott vergibt, kann es für auch Menschen, deren Beziehung gescheitert ist, einen Neubeginn geben. So verstehe ich die Botschaft Jesu.
6. Inwiefern könnte die Bibel eine Orientierungshilfe sein?
Die Bibel zeichnet ein realistisches Bild vom Menschen. Sie bewahrt uns davor, einander in der Liebe zu überfordern. Ich bin auch überzeugt, daß sich das biblisch begründete Leitbild einer auf Liebe, Freiwilligkeit, Treue, wechselseitiger Verantwortung und Fürsorglichkeit beruhenden Ehe auch auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften übertragen läßt.